17.05.20236min

Digitale Produktentwicklung: Wie Innovation ein neues Berufsbild prägt

Digitale Produktentwicklung: Wie Innovation ein neues Berufsbild prägt
Digitale Produktentwicklung: Wie Innovation ein neues Berufsbild prägt

Rund 30.000 Kleidungsstücke und Accessoires können Kund*innen im Online-Shop von Bonprix kaufen. Was man den Produkten nicht ansieht: Zehn Prozent des Sortiments wurden rein digital an einem 3D-Avatar entwickelt, ohne physische Muster oder Nähmaschine. Die Zukunft der Fashion-Entwicklung? Die digitale Produktentwicklung hat einige Vorteile: Sie halbiert die Time-to-Market, garantiert eine gleichbleibend hohe Produktqualität und schont Ressourcen. Auch neue Jobprofile entstehen dabei.

Was wir vor 20 Jahren outgesourct haben, holen wir heute wieder zurück ins Unternehmen, um Styles selbst entwickeln zu können.

Solveigh Keikavoussi, 2D/3D Produktentwicklerin bei Bonprix.

Bonprix glaubt an die digitale Zukunft des Fashion-Designs: Bis Ende 2025 plant das Unternehmen, den gesamten Produktentwicklungsprozess digital abzubilden, sofern dies technisch möglich ist. Eine zentrale Rolle spielen dabei die Technical Product Developers (TPD), ein neues Berufsbild, das durch die Umstellung von der herkömmlichen Produktion auf digitale Workflows entstanden ist. Statt Kompetenzen dafür einzukaufen, setzt Bonprix auf die Weiterentwicklung der eigenen Beschäftigten. Interessierte Mitarbeitende können an einem eigens entwickelten Schulungsprogramm teilnehmen, das die notwendigen Skills vermittelt – von der Schnittentwicklung und Gradierung, also der Bereitstellung eines Styles in allen Größen, über den Umgang mit 2D- und 3D-Software bis hin zur Lieferantenkommunikation.

Solveigh selbst hat bereits umfassende Erfahrungen und Kompetenzen mitgebracht, als sie vor knapp zwei Jahren bei Bonprix gestartet ist. Sie hat mehr als zehn Jahre selbstständig als Schnittmacherin gearbeitet sowie als 3D Artist für namenhafte Marken. Entsprechend kennt sie beide Welten sehr gut – die herkömmliche Produktion mit physischen Mustern und den digitalen Prozess mit sogenannten „Digital Twins“, die virtuelle Repräsentation der Kleidungsstücke.

Digitale Produktentwicklung
Digitale Produktentwicklung

Vom Briefing zum digitalen Schnittmuster
Ob digital oder physisch – jedes neue Kleidungsstück bzw. jeder neue Style beginnt mit einem Briefing aus dem Product Management, der Kreativabteilung von Bonprix, in der die Ideen für alle neuen Kollektionen entstehen. Im herkömmlichen Prozess fand dazu eine Modell-Durchsprache statt, in der das Team persönlich zusammengekommen ist – ein immer weniger praktikabler Ansatz für die internationalen Teams, die heute an der Kreation eines neuen Produkts arbeiten. Im neuen digitalen Prozess erfolgt das Briefing der Technical Product Developers über ein Kollaborationstool inklusive Bildern und einer Liste von Attributen, beispielsweise ob ein Oberteil einen V- oder Rundhalsausschnitt, lange oder kurze Arme haben soll, sowie dem gewünschten Stoff.

Als TPD wählt Solveigh einen der geplanten Styles aus und muss dann entscheiden, welcher Standard-Schnitt für das gebriefte Passformkonzept die beste Ausgangsbasis für die Schnittentwicklung ist. Im herkömmlichen Prozess ist die Erstellung des Schnittmusters inklusive der Gradierung in allen Größen beim Textilproduzenten entstanden – heute holt Bonprix diese Kompetenz zurück ins Unternehmen.

Ein Beispiel: Für ein rostrotes Oberteil mit ausgestellten Ärmeln hat Solveigh den Standardschnitt für ein Boxy Shirt, also ein locker und weit geschnittenes T-Shirt, mit einer Oberweite von 52cm gewählt. In einer 2D-Software entwickelt sie aus diesem Basisschnitt nun alle notwendigen Schnittteile für den geplanten Style. Diese werden in eine 3D-Software übertragen und dort virtuell vernäht. Im herkömmlichen Prozess passierte dies an einem physischen Sample, heute an einem rein digitalen. Seitennähte zusammennähen, Schulternähte schließen, Abnäher – bis am Ende der Style bereit für die Simulation und das Fitting an einem virtuellen Avatar ist.

Dieser Avatar ist der digitale Zwilling der Büste, die Solveigh und ihre Kolleg*innen im herkömmlichen Entwicklungsprozess für das Fitting physischer Muster verwendet haben. Da der Prozess noch nicht vollständig umgestellt ist, stehen diese Büsten noch heute stehen mit identischen Maßen und Proportionen neben den Messtischen in der Bonprix Qualitätsentwicklung.

3D-Fitting am virtuellen Avatar
Ist das Kleid am Avatar perfekt arrangiert, wählt Solveigh den digitalisierten Stoff aus. Im Beispiel des rostroten Oberteils ist es ein Crêpe-Stoff . Das beschreibt allerdings nur die Oberflächentextur – nicht genug Information für ein vernünftiges Fitting. Aus diesem Grund analysiert das Fabric-Team von Bonprix die physikalischen Eigenschaften aller Stoffe. Dazu wird der Originalstoff in einen Fabric Analyzer gespannt, mit dem etwa Gewicht, Rücksprungkraft und Dehnbarkeit ermittelt werden. All das sind wichtige Informationen, um das Fitting am Avatar beurteilen zu können. Je nach physikalischen Eigenschaften verhält sich der Stoff anders.

In der 3D-Software stehen den TPD verschiedene Fitting-Tools zur Verfügung. Anhand der Pressure Map kann Solveigh beispielsweise erkennen, wie stark der Stoff auf dem Körper aufliegt. Hat ein Style beispielsweise zu kurze Träger, die einschnüren, wäre der Bereich in der Pressure Map rot oder orange eingefärbt und Solveigh wüsste, dass sie die Träger verlängern muss. Die Tension Map gibt Aufschluss darüber, an welcher Stelle des Körpers der Stoff wie stark gedehnt ist. Solveigh kann so erkennen, wie eng oder weit der Style ist. „Der Avatar kann nicht mit uns sprechen – die Tools sind daher sehr wichtig, um den Fit wirklich beurteilen zu können“, erklärt sie.

Vom virtuellen Avatar in die physische Produktion in allen Größen
Ist der finale Style zur Produktion freigegeben, kann die weitere Arbeit in parallelen Prozessen erfolgen. Der entwickelte Style geht einerseits ins Awarding, d.h. ein Lieferant wird ausgesucht, der den Style in allen gewünschten Größen produzieren kann. Hier zeigen sich konkrete Vorteile der digitalen Entwicklung in puncto Nachhaltigkeit: Im herkömmlichen Prozess wurden zum Teil ca. vier bis acht physische Muster benötigt, bevor die Produktion losgehen konnte – Ressourcen und Emissionen, die durch die digitale Produktentwicklung eingespart werden.

Währenddessen kümmert sich Solveigh um die Gradierung: Mit Hilfe der Tension und Pressure Maps prüft sie, ob sich das Fitting des Styles gleichmäßig über alle Größen entwickelt. Dieser Schritt ist für Bonprix besonders wichtig, das Unternehmen legt großen Wert auf die Passform. Während andere Marken den „Digital Twin“ vor allem als Content für den Online-Shop und Social Media nutzen, hat das Unternehmen sich dazu entschieden, den Prozess von Anfang an ganzheitlich zu denken. „Wir wollen alle Vorteile der digitalen Produktentwicklung nutzen – wir wollen unseren Kund*innen eine konsistente Passform bieten und gleichzeitig nachhaltiger werden. Und wir sind mutig genug, in 3D zu fitten“, sagt Solveigh.

Sind alle Prozesse zur Qualitätsentwicklung abgeschlossen und ist der passende Lieferant gefunden, geht der Style in die Produktion. Auch hier unterscheidet sich der digitale vom herkömmlichen Prozess: Die Beauftragung läuft direkt über die TPDs, sie schnüren ein Paket aus Maßtabellen, Renderings, Schnitt und Gradierung für die Produzenten, stehen in direktem Kontakt. Das beschleunigt den Prozess und verdeutlicht, wie anspruchsvoll die neue Rolle der Technical Product Developers ist: Einerseits benötigen die Kolleg*innen fundierte Fachkenntnisse über Maßkonzepte, Passformklassen, Stoffeigenschaften und deren Verarbeitung sowie Kenntnisse über Lieferanten und deren Produktionsprozesse. Andererseits gehören auch Kreativität, Beratungskompetenz, ein Gespür für europäische Mode und technische Skills im Umgang mit 2D und vor allem 3D-Technologien zum Profil der TPDs.

Digitale Produktentwicklung
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Digitale Produktentwicklung – schnell, flexibel, konsistent und nachhaltig
Natürlich sind neue Prozesse und Berufsbilder kein Selbstzweck, sie wurden eingeführt, weil sie verschiedene Vorteile bieten. Bonprix geht es bei der digitalen Produktentwicklung nicht nur darum, die Time-to-market zu verkürzen und die Flexibilität in der Lieferkette zu erhöhen. Es geht auch darum, die Produktqualität zu verbessern und Kund*innen konsistente und aktuelle Passformen anbieten zu können. Der digitale Prozess ermöglicht es zudem, schneller auf Kund*innenwünsche einzugehen, beispielsweise wenn sich bestimmte Retourengründe bei einem Style häufen oder die Rezensionen zeigen, dass das Fitting nicht optimal ist. Gleichzeitig ist der neue Entwicklungsprozess auch nachhaltiger – Ressourcen werden geschont und Transporte reduziert. Digitale Produktentwicklung – für Bonprix definitiv die Zukunft der Fashion-Entwicklung.

  • Passformkonsistenz: Sicherung einer gleichbleibend hohen Produktqualität
  • Effizienz: Geschwindigkeit in der Prozesskette
  • Flexibilität: Möglichkeit, agil auf Trends zu reagieren
  • Nachhaltigkeit: Einsparungen von physischen Mustern und Emissionen in der Herstellung und im Transport

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